90 Prozent der Frauen tanzen gern, aber nur zehn Prozent der Männer. Das ergab eine Umfrage der Zeitschrift „Men’s Health“. Und dieses Missverhältnis kann man in fast jeder Tanzschule sehen: Schon in den Kindertanzkursen und Ballettstunden gibt es deutlich mehr Mädchen als Jungs, und auch beim Paartanz sind die tanzwilligen Frauen in der Überzahl. Eine Ausnahme bilden die als cool angesehenen Genres wie Hip-Hop oder Breakdance. Gleichzeitig existieren in unserem Kulturkreis immer noch viele Vorurteile über Tänzer: Sie reichen von der sexuellen Orientierung bis hin zur Aussage, dass Tanzen doch kein richtiger Job sei. In Osteuropa hat Ballett einen ganz anderen Stellenwert. Razvan Crãciunescu stammt aus Rumänien und ist in Krefeld als Bühnentänzer und Ballettpädagoge bekannt. Für unsere monatliche Reihe „Wie wird man eigentlich …“ hat er uns von seinem ungewöhnlichen Traumberuf erzählt.
Im Kinofilm „Billy Elliot“ schickt ein Vater seinen elfjährigen Sohn zum Boxen, doch der geht lieber heimlich tanzen und schafft es nach Überwindung einiger Hindernisse auf eine der renommiertesten Ballettschulen des Landes, die Royal Ballet School in London. Razvan Crãciunescu wächst in den 1970er-Jahren in einer kleinen rumänischen Stadt auf und macht dort andere Erfahrungen als der Filmheld Billy. Sein Vater ist zwar auch sehr sportbegeistert und liebt Fußball und Boxen, aber er unterstützt seine drei Kinder sehr auf ihrem Weg in eine bessere Zukunft. Denn zu der Zeit und in diesem sozialistischen System seien Künstler sehr hoch angesehen gewesen und hätten genauso viel verdient wie Ärzte, berichtet Razvan. „Eine Jury ging damals bis in die kleinen Orte auf dem Land, um junge Talente für die Tanz- und Musikschulen zu finden. So wurden meine Schwester für Ballett ausgewählt und mein kleiner Bruder für Musik.“ Seine Geschwister kommen auf ein Internat, das sich 120 Kilometer vom Heimatort entfernt befindet, und Razvan, das jüngste Familienmitglied, ist plötzlich mit den Eltern allein zu Hause.
Er weiß schon als Kind, dass er auch dorthin will, wo seine Geschwister sind – und verbringt die Wartezeit mit viel Sport, bis er endlich alt genug ist, um zum Casting in der Schule zu gehen. Im Alter von elf Jahren ist er noch relativ klein, aber sehr gelenkig: „Ich konnte schon Spagat, ohne dass ich in der Ballettstunde war, und mein Vater hat mich gleich für zwei Prüfungen angemeldet.“ Nervös und im weißen Unterhemd wie Billy nimmt er an der Ballettprüfung teil, muss Rhythmen klatschen und kleine Schrittfolgen tanzen. Das habe ihm trotzdem sehr viel Spaß gemacht, mehr noch als die anschließende Musikprüfung, in der es um die Qualität seiner Zähne und Finger oder sein Lungenvolumen ging. Er ist in beiden Disziplinen erfolgreich und muss eine Entscheidung treffen: „Der examinierende Lehrer wollte mich überreden, die Musik zu wählen, da Balletttänzer nur eine kurze Karriere haben“, erzählt Razvan. „Aber ich bin mit dem Fuß aufgestampft und wollte unbedingt zum Ballett!“ Und so geht er endlich auf das gleiche Internat wie seine Geschwister und absolviert die harte Ausbildung an der Ballettakademie.
In der klassischen Ballettausbildung sind auch in Deutschland zwei Unterrichtsmethoden am bekanntesten: die russische Schule nach Agrippina Waganowa und die englische Schule nach den Lehrplänen der Royal Academy Of Dance (RAD). Der wesentliche Unterschied liegt in der Pädagogik: Während das RAD-Prinzip viel mehr auf das Unterrichten von Kindern ausgerichtet ist, arbeitet die Waganowa-Methode auf eine professionelle Ausbildung für Balletttänzer und Ballerinas hin. Razvan wird in Rumänien nach der russischen Methode ausgebildet, und er bekommt mehrfach die Möglichkeit, in der zweitgrößten Stadt Cluj-Napoca vor großem Publikum aufzutreten. „Meine Eltern waren so stolz, uns Tänzer im Fernsehen zu sehen. Für uns waren diese Auftritte einfach eine große Abwechslung, man hat sich um uns gekümmert wie um große Stars, und es gab sogar Schokolade“, erzählt Razvan schmunzelnd. Im Dezember 1989 erlebt er die rumänische Revolution „mit gemischten Gefühlen“ live mit, er ist zufällig in Bukarest und muss sich mit seinen Kommilitonen 600 Kilometer nach Hause durchschlagen. Die nächsten zwei Schuljahre verlebt er im neuen System der Demokratie, doch er zieht für sich eine positive Bilanz: „Ich habe gelernt, sowohl Disziplin als auch Freiheit zu schätzen. Das hat mir auf meinem weiteren Lebensweg immer geholfen.“
Der studierte Diplom-Bühnenballetttänzer verbringt die folgenden vier Jahre als Solotänzer am renommierten Theater- und Opernhaus in Cluj-Napoca, absolviert seinen Wehrdienst und zieht schließlich ins Ausland. Seine erste Station ist das Landestheater im österreichischen Linz, danach geht es im Zweijahresrhythmus weiter nach Gera, Flensburg und zuletzt nach Mönchengladbach, wo er viele Jahre bleibt. Er spielt alle bekannten Rollen von Othello bis Romeo, ist als Solotänzer beim Publikum beliebt, und doch plagen Razvan oft Selbstzweifel: „Habe ich das verdient? Ich wollte immer nur ich sein, einfach einen guten Job machen und gar nicht unbedingt in der ersten Reihe stehen.“ Die Choreografien des Amerikaners Robert North, der seit Januar 2007 an den Vereinigten Städtischen Bühnen Krefeld und Mönchengladbach arbeitet, gefallen ihm am besten, und er schätzt die Art, wie North „Geschichten erzählt und das Beste aus den Menschen herausholt“. Eine Lieblingsrolle sei Johann Sebastian Bach gewesen, erinnert sich Razvan, denn so konnte er tänzerisch ein ganzes Leben darstellen. Auch wenn die Rolle viel Kraft gekostet habe.
Im Leben des Bühnentänzers Razvan verschieben sich allmählich die Prioritäten, als er mit 31 Jahren Vater wird. Denn die Tänzerkarriere ist relativ kurz und von Verletzungsängsten geprägt. Um sich auf eine Zeit nach dem Theater vorzubereiten, absolviert er eine zweite Ausbildung zum Diplom-Ballettpädagogen – als Fernstudium mit Prüfungen in Rumänien. Er beginnt, parallel zum Theater in Ballettschulen und Tanzstudios zu unterrichten – und wieder stellt er sich bescheiden selbst in Frage: „Ein guter Tänzer ist nicht unbedingt ein guter Lehrer, man lernt ein Leben lang und wird hoffentlich immer besser“, sagt er mit ruhiger Stimme. Mittlerweile arbeitet Razvan hauptberuflich als Tanzlehrer in Krefeld und wird von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sehr geschätzt. „Es macht mir große Freude, Menschen aller Alters- und Leistungsstufen zu unterrichten. Egal ob jemand sich als Erwachsener mit Ballettstunden seinen Jugendtraum erfüllt oder sich als junger Mensch auf eine Tänzerlaufbahn vorbereiten möchte – ich möchte in meinem Unterricht jeden Teilnehmer die Freude und Begeisterung fürs Ballett erleben lassen, die ich selbst empfinde“, ist auf der Homepage des Studio 232 zu lesen.
Lebensgefährtin Anja Santoriello hat unterdessen nie am Talent ihres Partners gezweifelt und 2018 mit ihm das Studio für Tanz und Fitness an der Weyerhofstraße gegründet. Den Herausforderungen durch Corona stellen sich beide gemeinsam, und so heißt es in einem Tanzraum einfach „Testen und Tanzen“, weil die Betreiber als offizielles Testzentrum auch Schnelltests anbieten. „In allen Krisen gibt es auch immer einen Grund, weiterzumachen“, lautet Razvans Fazit. „Das Glück kommt von innen“, sagt er lächelnd und ist in seinem zweiten Traumberuf angekommen. Vielleicht sorgen Vorbilder wie er dafür, dass sich viele Klischees auflösen und endlich mehr Jungs in die Tanzschulen gehen. Denn Tanzen macht glücklich!